Wer fragt, hat die Macht (Teil 2)

Dieser Artikel erschien am 27. August 2020 im Rubikon.

 

Fazit aus der Betrachtung der Standpunkte

 

Niemand in der Runde hat einen eigenen politischen Standpunkt zum Geschehen entwickelt, von dem er oder sie überzeugt ist, außer Sahra Wagenknecht. Es kommt keine lebendige, fruchtbare, lösungsorientierte, leidenschaftliche, aus eigenen inneren Überzeugungen genährte Diskussion zustande.

 

Oft wird ein Redebeitrag als Standpunkt eingeleitet, indem jemand seinem Gesprächspartner widerspricht oder auf Wills Frage eingeht. In der Weiterentwicklung ist dann aber zu bemerken, dass nicht der Standpunkt des Sprechenden verteidigt wird, sondern durch rhetorische Mittel eine übergeordnete, nicht persönliche Meinung vertreten wird, dass diffamiert wird, verwässert wird und viel Angst geschürt wird. Die eigenen Standpunkte, das Wo stehe ich?, die Authentizität, die Nachvollziehbarkeit und die Spürbarkeit der Gäste, Dinge, die eine Talkshow beleben und ausmachen, bleiben auf der Strecke.

 

Wenn die Talk-Gäste, von Sahra Wagenknecht abgesehen, fast keine eigenen Standpunkte zum Zeitgeschehen in die Diskussion einbringen, warum wurden sie dann eingeladen? Ohne Wagenknecht wäre die Glaubwürdigkeit der gesamten Runde sicherlich weiter gesunken. Laut Statista belegt Karl Lauterbach mit vierzehn Einladungen zu coronaspezifischen Talkshows von ARD und ZDF im Jahr 2020 den ersten Platz. Welche redaktionelle Absicht verfolgte Anne Will mit der Sendung?

 

Fragen der Moderatorin Anne Will während der Sendung

 

Um das zu verstehen, folgt eine Analyse von Anne Wills Fragen anhand ihrer Rhetorik in Bezug auf ihre Intention. Nicht berücksichtigt werden hier die meisten kurzen Einwürfe und Nachfragen.

 

Anne Will stellt ihre erste Frage an einen regierungstreuen Befürworter der Grundrechtseingriffe, an Karl Lauterbach. Diese erste Frage ist keine offene Frage, sondern eine Ja-/Nein-Frage, die mehrere Aussagen bereits impliziert, wie oben unter „Die Eröffnung der Diskussion“ beschrieben.

 

Wills zweite Frage richtet sich auch an Lauterbach:

„Sie waren ja immer gegen weitere Lockerungen und für größtmögliche Vorsicht. Was heißt denn das dann in Zukunft für die Akzeptanz weiter geltender Einschränkungen gar der Verschärfung von Einschränkungen, sollte das jemals wieder notwendig werden?“

 

In seiner Antwort erklärt Lauterbach, warum er den Lockdown noch verschärfen wollte. Die Fragestellung der Moderatorin liefert die Steilvorlage dafür. Obwohl die nächste Welle nicht Thema der Sendung ist, sondern die gegenwärtigen Grundrechtseingriffe, wird zu Beginn der Sendung große Angst vor der nächsten Welle geschürt. Thema der zweiten Frage ist nicht die Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen, sondern deren Akzeptanz.

 

Will bekräftigt das Intro von Lauterbach durch ihre Nachfrage:

„Aber es hängt an der ausreichend guten Erklärung all dessen, was man dann macht.“

In der sechsten Sendeminute fragt Anne Will ein einziges Mal nach dem Thema der Sendung:

„Frau Leutheusser-Schnarrenberger, waren und sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig?“

Es bleibt hierzu dann bei der oben beschriebenen Antwort der ehemaligen Justizministerin. Als diese über verfassungsrechtliche Grenzen und die Stimmung in der Bevölkerung spricht, lenkt Will unsere Aufmerksamkeit auf die Unberechenbarkeit eines Virus:

„Aber Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wer mehr Grundrechte anmahnt, der muss dann zwangsläufig ja mehr lockern, riskiert der oder die damit dann im Zweifel dann auch höhere Infektionszahlen, weil sich so’n Virus nun mal gar nicht um Grundrechte schert?“

Die versteckte Botschaft lautet: Das Virus schert sich nicht um Grundrechte, also sollten wir uns auch nicht um sie scheren.

 

Wills erste Frage an den RBB-Journalisten in der Runde lautet:

„Herr Sundermeyer, sie waren auf den, oder auf einigen der Proteste, die Frau Leutheusser-Schnarrenberger schon angesprochen hat, die sich sogenannte ,Hygienedemos‘, äh, nennen, in Berlin und Cottbus waren Sie da, geht‘s denn denen, die da demonstrieren, die sich beobachtet haben mit dem einen oder anderen haben Sie sicherlich auch gesprochen, um Kritik an den Anti-Corona-Maßnahmen und den damit einhergehenden Grundrechtseinschränkungen oder worum geht es denen?“

 

Das Wort Hygienedemos spricht Will gedehnt und abfällig aus, wie etwas Unangebrachtes oder sehr Unnormales. Als Moderatorin sollte sie Eigennamen und politische Begriffe doch eher neutral betonen. Die Frage, worum es den Demonstranten geht, ist nicht das angekündigte Thema der Sendung. Ihr Anliegen und ihre Integrität werden hier von vornherein infrage gestellt, um die Beschäftigung mit dem Thema zu vermeiden.

 

Aus der Diffamierung von Einzelpersonen ist uns das bereits vertraut: Wer inhaltlich nicht weiterkommt, wendet sich gegen die Person an sich. Hier wird das gleiche Schema auf eine ganze Personengruppe, eine Protestbewegung angewandt. Es wird absichtlich vom Thema abgekommen.

 

Die Fragen der Moderatorin bewegen sich von nun an immer weiter vom Thema weg, und damit auch von einer offenen, fruchtbaren Diskussion. Emotionen werden erzeugt, das Publikum bekommt Angst vor den Demonstranten. In einer solchen, sehr undemokratischen Atmosphäre wird es immer schwieriger, als Zuschauer unvoreingenommen nachzudenken oder als Gast Gegenposition zu ergreifen.

 

Nach einem knappen Viertel der Sendezeit wendet sich Will zum ersten Mal an Sahra Wagenknecht:

„Frau Wagenknecht, haben Sie Verständnis für diejenigen, die auch jetzt am Wochenende wieder zu Tausenden demonstriert haben, und das scheinen ja in der Minderheit diejenigen zu sein, die, ähm, zum Beispiel sich um die Zukunft ihres Fitnessstudios oder ihres Gastronomiebetriebs, ihres Reisebüros sorgen?“

 

Im zweiten Halbsatz übernimmt Will hier die Situationsbeschreibung von Sundermeyer als gegeben, wodurch die Frage nicht mehr neutral und offen im Raum steht.

 

Gegenüber dem Medienwissenschaftler Pörksen beruft sich Will in ihrer nächsten Frage auf eine ZDF-Statistik, die die Stimmung in der Bevölkerung wiedergeben soll:

„81 Prozent, Bernhard Pörksen, satte 81 Prozent sagen laut ZDF-Politbarometer, sie fänden die Proteste nicht gut. Sind die dann vollständig übertrieben? Oder andersrum gefragt: Haben die Corona-Einschränkungen, die Proteste, das Potenzial, das Land zu spalten, oder ist das eben angesichts der großen Zahlen tatsächlich ’ne Falschüberlegung?“

 

Die Frage hat einen doppelten Boden und ist unklar: Geht es um die Einschränkungen, die das Land spalten? Oder spalten eventuell die Proteste das Land? Seit wann spalten Proteste eine Demokratie? Ohne Proteste kann eine Demokratie nicht funktionieren. Der Frame, den Will hier öffnet, ist undemokratisch. Durch das Wort „Corona-Einschränkungen“ vor dem Wort „Proteste“ wird die Aussage in der Frage versteckt.

 

Die heraufbeschworene Gefahr

 

Spätestens mit dem nächsten Einspieler gewinnt das Thema „Gefährlichkeit der Demonstranten“ endgültig die Oberhand. Dafür sorgen entsprechende Zitate, die darin eingeblendet werden:

 

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Anne Will muss dem so geängstigten Zuschauern nach diesem Einspieler nicht mehr erklären, warum sie die folgende Frage dreimal wiederholt: „Herr Lauterbach, lässt sich die Corona Pandemie tatsächlich ähnlich instrumentalisieren und politisch ausnutzen wie damals die Geflüchtetenpolitik Will manipuliert hier unser Denken und Fühlen, indem sie die Hygienedemos mit Pegida gleichsetzt. Sie lässt in den folgenden zwanzig Minuten nicht mehr davon ab, gibt sich aber diplomatisch:

 

„Unterstellt aber wieder, Herr Lauterbach, wenn ich genau zugehört habe, dass Sie nicht davon überzeugt sind, was Herr Haldenwang aber sehr wohl ja anerkennt, dass dort selbstverständlich auch Bürgerinnen und Bürger sind, die sich sorgen?“

 

Nachdem der Frame „böse Demonstranten“ für diese Sendung nachhaltig gesetzt wurde, hat diese Nachfrage wenig Kraft. Sie dient aus meiner Sicht der Sympathiegewinnung. Um eine friedliche Bewegung zu diffamieren, ist die Behauptung, jeder einzelne dort sei ein Bösewicht, zum einen ungeeignet, da unglaubwürdig, und zum anderen schlichtweg unnötig.

 

Als Lauterbach sich gegen das Mittel der Demonstration an sich ausspricht, will Sahra Wagenknecht sich in die Diskussion einbringen, was Anne Will bemerkt. Als Moderatorin erteilt sie ihr kurz darauf das Wort, allerdings nicht ohne vorher ihre Frage zu wiederholen:

 

„Wir sind bei dem Gedanken, Frau Wagenknecht, ich will ihn noch mal aufgreifen, lässt sich die Corona Pandemie ähnlich instrumentalisieren wie damals die Geflüchteten-Politik?“

 

Ich empfinde dieses Verhalten als gewaltsame Gesprächsführung. Wagenknecht wollte etwas in die Diskussion einbringen und nicht diese Frage beantworten. Zudem ist die Frage nicht das Thema der Sendung. Die Moderation ist hier sehr autoritär. Wagenknecht geht dementsprechend auch nicht direkt auf die Frage ein, sondern bleibt bei sich.

 

Daraufhin wendet sich Will an die ehemalige Justizministerin: „Aber, ich bin nicht durchgedrungen mit meiner Frage, ich stelle sie an Sie noch mal, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, lässt sich die Corona-Pandemie, das war ja der Gedanke, ähnlich instrumentalisieren wie, politisch instrumentalisieren wie die Geflüchteten Politik. Sie versucht es nun bei einer regierungstreueren Gesprächspartnerin ein drittes Mal und erhält diesmal wieder Zustimmung.

 

Auf ihre nächste Frage ist Anne Will sichtbar gut vorbereitet, sie hat eine Karte zu dem Thema dabei mit einem Zitat von Michael Kretschmer, welche sie im passenden Moment zur Hand hat:

 

„Herr Pörksen, Ministerpräsident Kretschmer, der sächsische Ministerpräsident, ist gestern mit dem Fahrrad vorbeigefahren an einer der Demonstrationen in Dresden und hat gesprochen mit denjenigen, die dort demonstriert haben, hat sich auch beschimpfen lassen müssen, hatte keinen Mundschutz auf, was man im Nachhinein kritisiert hat, er selber hat es gerechtfertigt, er hat gesagt, wenn man mit Menschen sprechen will, die die Maske grundsätzlich ablehnen, gibt es nur zwei Möglichkeiten, man trägt selbst keine oder es gibt kein Gespräch. Ist es sinnvoll, zu sprechen mit auch ExtremistInnen, die dort hingehen, und sie damit vielleicht aufzuwerten, oder kann man sich die rausfinden, die für einen vernünftigen, klugen Dialog zugänglich sind?“

 

Kretschmers Gespräch mit denn Demonstranten in der hier dargebotenen Form zu thematisieren, war also vor der Sendung geplant. Zu seinem oben genannten Zitat soll hier ergänzt werden, dass der Ministerpräsident das zu seiner Verteidigung sagte, als er auf eine Klage aufgrund des fehlenden Mundschutzes reagierte.

 

Laut n-tv hatte Kretschmer die Proteste stets als Bestandteil der Demonstrations- und Meinungsfreiheit verteidigt: ,Das heißt aber auch, sich mit dieser anderen Meinung auseinanderzusetzen. Wir müssen offenbleiben für Diskussionen und brauchen Respekt denen gegenüber, die anderer Meinung sind‘, wird er zitiert.“

 

Mit ihrer Frage öffnet Anne Will eine neue geistige Schublade: Jemand hat es tatsächlich gewagt, mit denen da zu sprechen und sich damit selbst gefährdet. Schon das Sprechen mit den Demonstranten ist also gefährlich und muss wohl überlegt oder ganz vermieden werden.

 

In diesem Deutungsrahmen bewegt sich die Sendung nun bis zu den Schlussgedanken. Will spricht von „ExtremistInnen“, die man durch ein Gespräch unbeabsichtigt „aufwerten“ könnte. Ist ein Frame einmal gesetzt, dann kann punktuell die diplomatische, sanfte Seite gezeigt werden, so auch im letzten Teil dieser Frage, die den „vernünftigen, klaren Dialog“ erwähnt. So wird beim Zuschauer das Gefühl einer fairen Diskussion aufrecht erhalten.

 

Will bleibt beim Thema Kretschmer und sagt zu Sundermeyer: „Hingeguckt: Sie hatten gesagt, Herr Kretschmer macht alles richtig. Ungewöhnlicher Satz für einen Journalisten.“

 

Die Moderatorin kennt Sundermeyers Haltung gegenüber den Protesten und gibt ihm mit dieser Frage Raum, noch tiefer in die Diffamierung einzusteigen, was Sundermeyer auch tut, indem er wie oben beschrieben von Pegida-Vergleichen und von „Wutbürgern“ spricht.

 

Als Lauterbach mit Sundermeyer über die während der Sendung herbeigeredeten „Parallelen zur Pegida-Bewegung“ diskutiert, fragt ihn Will: „Aber ich verstehe nicht: Wenn da eine Impfgegnerin steht, warum können Sie sich mit der nicht unterhalten?“

 

Hier stellt sie eine ganz normale Frage. Im Kontext mit der schier erdrückenden Menge an manipulativen Fragen jedoch scheint sie mir eine Feigenblattfrage zu sein, um die Sympathie mit der Moderatorin nicht zu verlieren. Sie selbst hat zuvor mit dem Verweis auf Kretschmer und die „ExtremistInnen“, die nicht „aufzuwerten“ sind, diese Frage ja indirekt bereits beantwortet.

 

Als Sahra Wagenknecht sich mit Nachdruck für größere Meinungsvielfalt ausspricht, unterbricht Will sie mit der Frage: „Würden Sie sich denn, Frau Wagenknecht, frage ich jetzt genau oder konkret, mit Verschwörungsgläubigen auseinandersetzen?“

 

Die Eigenschaften „genau“ und „konkret“ sind Qualitäten im Journalismus. Sie nennt diese und macht dann das Gegenteil. Der Begriff „Verschwörungsgläubige“ ist nicht genau und auch nicht konkret, sondern es handelt sich um den oben erklärten Dysphemismus zur Diskreditierung von kritischen Fragen.

 

Autoritäre Gesprächsführung

 

Wagenknecht lässt sich von ihrer Argumentation nicht abbringen und sagt: „Es gab ja auch unter den Virologen und Wissenschaftlern Leute, die das so vertreten haben. Warum hat man das nicht mal sich auseinandersetzen lassen? Dann können die Leute sich doch besser ein Urteil bilden als immer nur über YouTube!“

 

Will unterbricht Wagenknecht nach den Worten „immer nur“ auf sehr autoritäre und unpersönliche Art und Weise, indem sie laut in den Raum hinein fragt: „Ist nicht genug erklärt worden, dann doch. Und ist auch nicht genügend diskutiert worden mit ähm, so wie es Frau Wagenknecht formuliert, anders gelagerten und gegensätzlichen Meinungen?“
Sie sieht Lauterbach an, der dann antwortet.

 

Die Moderatorin fragt, ob nicht genug „erklärt worden“ ist, obwohl es ja gerade um das Diskutieren geht. Damit knüpft sie an die zu Beginn der Sendung etablierten Deutungsrahmen von der Notwendigkeit guter Erklärungen für die Grundrechtseingriffe an. Dieser Rahmen engt die Debatte ein beziehungsweise macht sie unmöglich. Es wäre wünschenswert, dass die Moderatorin in einer Talkshow sowohl anerkennt, wenn etwas erklärt wird, zum Beispiel ein Standpunkt von einem Gast, der sonst nicht gut verstanden wird, als auch anerkennt, wenn jemand eine Gegenposition einnimmt, was dann eine offene Diskussion zu verschiedenen Standpunkten ermöglicht.

 

Mit ihrem Einwurf behandelt sie Wagenknecht wie ein kleines Kind, das nicht zu logischem Denken fähig ist, sinnentleert vor sich hinplappert und deshalb ohne Bezug und Beachtung unterbrochen wird. Will endet mit „dann doch“, was so viel heißt wie: „Was uns zu einer der Grundfragen der Sendung zurückführt: Man muss den Menschen die Maßnahmen einfach wirklich besser erklären.“

 

Der Frame „nicht genug erklärt“ erklärt somit auch das Publikum für minderbemittelt und die Opposition für überflüssig. Nachdem dieser Frame im Kopf des Zuschauers wie eine Schublade aufgezogen wurde, ergänzt Anne Will wieder etwas, was sie sympathisch erscheinen lässt und was demokratisch klingt. Hier, deutlich sanfter: „Und ist nicht genug diskutiert worden?“

 

Innerhalb der gedanklichen Schublade wirkt es aber kaum mehr. Diese Methodik in ihrer Rhetorik wiederholt sich. Es hat etwas Zermürbendes, wie Zuckerbrot und Peitsche, um jemanden gefügig zu machen. Auf mich wirkt es so: Wir sind zwar autoritär, aber dabei natürlich liebevoll und väterlich. Das gibt es aber nicht in einer Demokratie.

 

Das Königshaus berät über neue Wege der Public Relations

 

Nach dem letzten Einspieler wendet sich Will an Pörksen: „Herr Pörksen, wie lange hält die grundsätzliche Akzeptanz aller bisher getroffenen Maßnahmen wohl an, wenn zum Beispiel die wirtschaftlichen Schäden immer offenkundiger werden, wenn aber auch die Schulen und Kitas immer noch nicht im Regelbetrieb sind, wenn ältere Menschen und auch RisikopatientInnen weiter isoliert sind?“

 

Auch hier wird wieder im ersten Teil der Frage eine gedankliche Schublade aufgezogen: Die grundsätzliche Akzeptanz soll lange halten. Wenn ich im Publikum anderer Meinung bin, bin ich damit schon falsch. Es ist gut, wenn die Akzeptanz lange hält, und schlecht, wenn nicht.

Nachdem diese enge Schublade geöffnet wurde, wird etwas gesagt, was den Zuschauer abholen soll und demokratisch und sympathisch klingt: Schulen sind immer noch nicht im Regelbetrieb, ältere Menschen sind isoliert, das sind ja Dinge, die den Zuschauer sehr beschäftigen.

 

Ich erlaube mir hier einen satirischen Abstecher. Die Sendung müsste vielleicht eher heißen: „Das Königshaus berät über neue Wege der Public Relations: Wie vermarkten wir künftig unsere Politik?“

 

In diesem Sinne fragt Anne Will den Medienwissenschaftler Pörksen in der Runde als vorletzte Frage: „Wie könnte ein Politiker, eine Politikerin das lösen, wenn er immer, und sie auch immer sagen muss, ich weiß es nicht?“

 

Damit schließt sich die gedankliche Schublade samt unserer geistigen Freiheit und die Sendung hat ihre Intention erreicht: Es geht darum, sich gemeinsam Sorgen zu machen, ob und wie die Politiker es schaffen werden, die böse Opposition zu überzeugen.

 

Dazu passend fragt Will zuletzt die Juristin in der Runde: „Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wie lange hält die Akzeptanz noch, wenn die wirtschaftlichen Schäden, wenn die Ängste, die Frau Wagenknecht angesprochen hat, immer größer werden?“

 

Diese abschließende Frage unterstreicht noch einmal die Behauptung, dass akzeptable Proteste nur und ausschließlich aus persönlicher Not und für finanzielle Hilfe erfolgen.

 

Will beendet die Diskussion mit folgenden Worten: „Ein Fahrplan müsste also her, findet Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Und da sie von Autorität gesprochen hat, nehme ich mir die jetzt gleich und sage Danke!. Und gebe weiter an die Kollegen der Tagesthemen, Ingo Zamparoni …“

 

Hier sehe ich keine Methodik. Aber vielleicht bedeutet es einen Wink mit dem Zaunpfahl für uns Zuschauer, dass Anne Will ihre eigene Autorität benennt: Sie hat sie sich schon vorher genommen.

 

Fazit: Die Fragen von Anne Will lenken vom Thema ab, sie unterstellen bereits, dass der Regierungskurs und die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig sind, sie erzeugen viel Angst und tragen zur Diffamierung kritischer Bürger bei. In Verbindung mit den Einspielern betrachtet erschließt sich, dass die konsequente Abweichung vom Thema der Sendung so geplant war.

 

Themen der Einspieler

 

Der erste Einspieler erzählt in Kürze, dass die Grundrechte noch immer teils beschnitten sind, und zeigt entsprechende Aufnahmen. Genannt werden „Berufs- und Religionsfreiheit“, das „Versammlungsrecht“ und „Kontakte zu anderen Menschen.“ Man sieht besorgte Politiker, ein Balkendiagramm über die — angebliche — Stimmung in der Bevölkerung und Proteste auf der Straße.

 

Dazu der Kommentar: „Unter den Demonstrierenden: ,ImpfgegnerInnen, aber auch Rechtsextreme mit Reichsflaggen und Verschwörungsgläubige’“. Der Bundespräsident mahnt laut Kommentar „zur Vernunft“. Dieses knapp dreiminütige Intro ist bereits einseitig und damit richtungsweisend für die Sendung. Bei fairer Diskussionskultur ließe sich das jedoch ausgleichen.

 

Der zweite Einspieler schürt eine Minute lang Angst vor Rechtsextremen und hat darüber hinaus keinen Inhalt. Thomas Haldenwang spricht über mögliche Parallelen zur Flüchtlingskrise und die Gefahr durch Rechtsextreme, die sich an die „Spitze der Corona-Demonstrationen“ stellen könnten. Auch der Präsident des Bundeskriminalamtes BKA Holger Münch warnt vor einer solchen Gefahr.

 

Ich persönlich frage mich beim Zuhören: Warum sollten die Bürger keine eigene Spitze kreieren können oder beim Protestieren ohne das klarkommen? Sind sie also entweder verängstigte Kinder oder von Natur aus böse?

 

Der Inhalt des vorproduzierte Einspielers ist nicht das Thema der Sendung und belegt, dass der Themenwechsel geplant war. Die Frage, ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind, wird in der Live-Sendung dann bereits vor dem Einspieler vergessen.

 

Der dritte Einspieler erzählt eineinhalb Minuten lang von der drohenden Rezession. Lösungen wie Lohnfortzahlungen, MieterInnenschutz oder finanzielle Soforthilfe für Selbstständige stehen dabei im Vordergrund. Betont wird abschließend, Deutschland sei gut durch die Krise gekommen.

 

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Das Thema wird somit zum Abschluss der Sendung auf den wirtschaftlichen Aspekt fokussiert. Der Subtext: Solange wir genug Geld haben oder zumindest überhaupt Geld haben, haben wir auch keinen Grund zu protestieren. Grundrechtseingriffe, die keine finanziellen, sondern andere Auswirkungen auf unser Leben haben, werden in der gesamten Sendung gar nicht thematisiert.

 

Fazit: Die Einspieler spiegeln das ursprüngliche Thema der Sendung nicht ausreichend wieder und belegen, dass die inhaltliche Entwicklung der Sendung vorher schon fest stand.

 

Als Ergebnis der gesamten Analyse lässt sich zusammenfassen: Die Moderatorin und die Mehrheit der Gäste ziehen am selben Strang. Es geht dabei nicht um das Abbilden eines politischen oder gesellschaftlichen Diskurses, sondern um gezielte Meinungsmache, um Diffamierung, Spaltung und Angsterzeugung.

 

Rezeption der Sendung auf YouTube

 

Die besprochene Sendung findet sich, während ich diese Analyse schreibe, auf zwei YouTube-Kanälen, nämlich Polit-Talk Deutschland und DACH Medien. Auf dem erstgenannten Kanal erhielt sie bei 7.399 Aufrufen 46 „Likes“ und 148 „Dislikes“, auf dem zweiten Kanal bei 14.660 Aufrufen 83 „Likes“ und 218 „Dislikes“ (Stand: 13. August 2020). Auch wenn Kommentare aus verschiedenen Gründen nie das ganze Spektrum der Rezeption abbilden, so geben sie doch einen kleinen Einblick in die Stimmung der Zuschauer wieder, sofern sie, wie auch hier, zahlreich sind. Das YouTube-Publikum von DACH Medien reagierte beispielsweise so:

 

„Was für eine Farce! Musste nach 10 Minuten abschalten.“ Oder als Antwort darauf: „Es war in der Tat unerträglich, ich habe es mir aber komplett angetan. Es beleidigt den Intellekt jedes normal denkenden Menschen, was man hier anbietet: Lügen und Propaganda. Die Moderatorin wirft kess ab und zu bestärkende Regierungsfloskeln in den Redefluss des Diskutanten, ganz mieses Kino.“ Auf Polit-Talk Deutschland liest man in den Kommentaren: „Es wird jeden Tag schlimmer, der Journalismus in Deutschland ist tot. Es ist so schlimm, was hier vorgeht.“

 

Ich schließe daraus, dass das YouTube-Publikum Anne Will gegenüber kritischer eingestellt ist als das Fernsehpublikum. Es genügt aber nicht, uns oberflächlich über die Qualität einer Sendung oder Berichterstattung zu beschweren. Wenn wir Ähnliches weiterhin konsumieren, wirkt es unbewusst in uns weiter.

 

Ausblick

 

Der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld erklärt in einem aufschlussreichen Interview auch in Bezug auf Corona, wie Machterhalt in einer kapitalistischen Demokratie funktioniert:
„Wer mit der Geschichte der Entwicklungen von Techniken des Demokratie-Managements ein wenig vertraut ist, weiß, dass es seit jeher gerade eine zentrale Machttechnik in kapitalistischen Demokratien ist, systematisch Gefühle politischer Ohnmacht und Apathie zu erzeugen. Die kapitalistische Demokratie war seit ihren Anfängen als ,Zuschauersport‘ konzipiert. Offenkundig sehr erfolgreich, denn in den vergangenen Jahrzehnten muss man wohl politische Auseinandersetzungen eher als Teil der Unterhaltungsindustrie ansehen, was ja Colin Crouch unter dem Stichwort „Postdemokratie“ detailliert beschrieben hat.“

 

Wie kommt es zu dieser Apathie? Wir möchten alle dazugehören. Warum? Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir können alleine nicht überleben. Wir Menschen sitzen seit Menschheitsgedenken zusammen und debattieren, um zu Entscheidungen zu kommen. Wir halten zusammen, um zu überleben und uns gegenseitig zu schützen.

 

Wenn in einer Gesprächsrunde über ein wichtiges Thema, das uns sehr bewegt, so gesprochen wird, dass wir selbst nicht mehr dazugehören, dann bekommen wir große Angst. Wir fühlen uns dann ausgeschlossen. Wir sind dann diejenigen, mit denen man nicht reden darf. Wir sind dann diejenigen, die bildhaft gesprochen, in der Pestgrube sitzen oder auf dem Scheiterhaufen. Die Aussortierten. Das wollen wir auf keinen Fall. In solchen Momenten springen unbemerkt unsere alten Alarmglocken an, die uns daran erinnern, dass wir diese Zugehörigkeit aber brauchen. Dann kann es passieren, dass wir gegen uns selbst sprechen und handeln, weil wir uns unbewusst ansonsten in Lebensgefahr wittern.

 

Wir verraten dann vielleicht unsere eigenen Ziele. Wir kommen eventuell zu dem Schluss, dass man wirklich auf keinen Fall auf eine Demo für die Grundrechte und das Grundgesetz gehen darf, und auch nicht mit Leuten sprechen darf, die dort hingehen — obwohl wir selbst fühlen wie sie. Vielleicht erzählen wir das in der Arbeit in der Mittagspause. Vielleicht schweigt sich unser Gegenüber dann über seinen Besuch bei dieser Demo aus. Vielleicht werden wir sogar aggressiv, weil wir diesen inneren Konflikt verdrängen müssen, diesen Verrat an unseren eigenen Werten. Diese Aggression projizieren wir vielleicht nach außen und greifen andere verbal an. So schleicht sich Verlogenheit in die Gesellschaft ein, und so entsteht auch die Unmöglichkeit verschiedener „Lager“, miteinander zu diskutieren. Uns wird es so vorgemacht, und wir übernehmen es unbewusst, wenn wir nicht wachsam sind.

 

Der Ausweg kann aus meiner Sicht nur sein, die Methodiken zu durchschauen und offen zu thematisieren. Im Folgenden müssen wir dann Verantwortung übernehmen für die von uns ausgewählten Informationen sowie für die eigenen Gedanken und Gefühle. Wenn wir im Gespräch mit anderen sind und wissen, wie die Spaltung zu dem Thema erzeugt wurde, dann haben wir mehr Mitgefühl mit allen, auch mit uns selbst, und können Brücken bauen, wo immer Interesse daran besteht.

 


Quellen und Anmerkungen:

(1) Trust WHO, Kinodokumentarfilm, Ovalmedia 2018, Minute 21:03.

Angela

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