Dieser Artikel erschien am 27. August 2020 im Rubikon.
Wer fragt, hat die Macht
Eine Analyse der Sendung von Anne Will belegt: sie ist ein Abbild unserer Fassadendemokratie.
von Angela Mahr
Spaltung in unserer Gesellschaft: Menschen ent-freunden sich, nicht nur auf Facebook, sondern auch real. Was ist los in diesem Land? Woher kommt die Angst, und woher kommt die Aggression? Haben wir nicht gelernt, demokratisch zu debattieren? In diesem Artikel erkläre ich anhand einer Analyse der Sendung „Anne Will“, wie der Schein einer demokratischen Debatte vermittelt wird, während das Gegenteil abläuft. Die Frage „Waren und sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig?“ halte ich für zeitgeschichtlich so bedeutsam, dass ich die Sendung vom 17. Mai 2020 ausgewählt habe.
2020: Die Welt erlebt einen globalen Lockdown. Versammlungsrecht, freie Berufsausübung, Reisefreiheit und weitere Grundrechte sind eingeschränkt. Menschen sind auf einmal in Quarantäne und dürfen zeitweise ihre Häuser nicht verlassen. Sie dürfen ihre Geschäfte nicht mehr öffnen, ihre Freunde nicht mehr umarmen, und ihre Alten nicht mehr verabschieden. Wirtschaftliche Existenzen werden vernichtet. In Bayern durfte man nicht mehr in die Berge gehen, nicht einmal allein. Die Menschen durften ihre Religion nicht mehr ausüben und nicht mehr in die Kirche gehen. Die Situation ist historisch einmalig, nie hat es etwas Vergleichbares gegeben.
In Deutschland gab es keine reguläre Gefangenschaft in den Wohnungen, so wie in Italien oder Argentinien, außer für Rückkehrer aus anderen Ländern — oder doch auch mal aufgrund von „Sozialräumliche(r) Eindämmungsstrategie“ für einen ganzen Häuserblock.
Demonstrieren war hierzulande verboten, auch leise und friedlich, mit Maske und Sicherheitsabstand. Wer draußen herumlief und ein Grundgesetz in die Luft hielt, bekam also gegebenenfalls Probleme mit der Polizei.
Das Ende wirtschaftlicher Existenzen im Mittelstand, sei es im Handel, der Gastronomie und in vielen weiteren, bedeutet ein vermehrtes Abwandern des Kapitals nach oben, zu jenen großen Konglomeraten, Konzernen und Ketten, die eine solche Zwangspause unbeschadet überstehen können.
Es ist unter konkurrierenden Unternehmen heute leider nicht unüblich, dass das wirtschaftlich Stärkere das Schwächere so lange preislich unterbietet, und dabei selbst ins Minus wirtschaftet, wie es eben durchgehalten werden kann, und bis das andere Unternehmen vom Markt verschwindet. Den gleichen Effekt haben wir jetzt — allerdings verordnet von oben. Hart getroffen hat das unter anderem die Touristikbranche und die Gastronomie. Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen zogen die Menschen gegen die Grundrechtseingriffe vor die Verfassungsgerichte, und das in einigen Fällen mit Erfolg.
Demokratie in der ARD
Komplett ignorieren können unsere Fernsehanstalten diese Entwicklung und diese Urteile nicht, auch nicht die Proteste gegen die Maßnahmen, die Demonstrationen, die trotz und auch nach dem Demonstrationsverbot in verschiedener Form stattfanden und bis heute stattfinden. Denn immer noch dürfen die Menschen sich nicht frei bewegen, Konzerte nur unter Bedingungen hören, die das Gemeinschaftserlebnis fast zerstören und die Raummieten unbezahlbar machen, und in der U-Bahn nicht normal atmen.
Inwieweit die ausgerufene „Pandemie“ tatsächlich eine ist, warum die Weltgesundheitsorganisation WHO das Kriterium Sterberate aus der Definition einer „Pandemie“ schon 2009 herausnahm (1), und ob uns die weltweiten Maßnahmen vor einer schlimmen Katastrophe bewahrt haben, soll in diesem Text nicht diskutiert werden. Nur so viel: Die Frage, ob der Regierungskurs hierzulande der Bevölkerung oder einzelnen Profiteuren diente und dient, sowie ob er mit unserem Grundgesetz vereinbar ist, muss natürlich gestellt und diskutiert werden.
Deshalb landete das — möglicherweise unangenehme — Thema nun auf dem Tisch der ARD, und bei Anne Will.
Anne Will moderiert, so sieht es oberflächlich aus, gekonnt und diplomatisch eine spannende Talkshow, die die Meinungspluralität in unserer Demokratie abbilden soll. Jede Demokratie lebt vom Austausch der verschiedenen Standpunkte und Meinungen, vom Zuhören und lernen, von der offen ausgesprochenen Kritik der Opposition. Deshalb, so lässt es die ARD erscheinen, gibt es die Talkshow Anne Will. Will moderierte von April 2001 bis Juni 2007 die Tagesthemen im Wechsel mit Ulrich Wickert und Tom Buhrow, und seit 2007 den Talk Anne Will, gegenwärtig am Sonntagabend. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit der Goldenen Kamera, dem Deutschen Fernsehpreis und dem Goldenen Prometheus als „Fernsehjournalistin des Jahres 2007“.
Die Talkshow spielt auch heute noch eine nennenswerte Rolle bei der Meinungsbildung in unserer Gesellschaft. „Seit 2016 ist Anne Will die meistgesehene Talksendung im deutschen TV. 2017 und 2018 hatte der ARD-Talk durchschnittlich 4,1 und 3,4 Millionen Zuschauer“, berichtet der Merkur.
Die Produktionskosten der großen Talkshows liegen im sechsstelligen Bereich. Bevor Günther Jauch von 2011 bis 2015 von der ARD für den gleichnamigen Polit-Talk unter Vertrag genommen wurde, war Anne Will der teuerste öffentlich-rechtliche Talk. Die Sendung kostete die durch Rundfunkgebühren finanzierte ARD 3.164 Euro pro Minute.
Enthalten darin waren Wills Honorar und die redaktionelle Bearbeitung des Themas. 2015 bezog Anne Will laut Handelsblatt 2.419 Euro pro Sendeminute, während Günther Jauch 4.634 Euro verbuchte. Will handelte nach dem Ausscheiden von Jauch dann aber offenbar wieder eine deutlich höhere Summe heraus: „In Senderkreisen heißt es, Will habe bei den Verhandlungen mit dem für sie zuständigen NDR eine ordentliche Erhöhung der Summe herausgeschlagen, die ihre Will Media GmbH ab 2016 für die Produktion des Talks erhalten wird.
Wer nun glaubt, nur unsere Moderatoren seien finanziell gesehen die großen Stars des TV, irrt:
„Der WDR-Intendant, sozusagen Geschäftsführer der größten öffentlich-rechtlichen Anstalt, zählt unter seinen Kollegen traditionell als Bestverdiener. So hat Tom Buhrow nach ARD-Angaben im Jahr 2016 399.000 Euro bekommen (entspricht 33.333 Euro pro Monat), gefolgt vom BR-Intendanten Ulrich Wilhelm mit 367.000 Euro und Lutz Marmor, Intendant des NDR, mit 348.000 Euro Jahresgehalt, fasst Meedia 2017 zusammen.
Die durch Corona erzeugte Angst in der Gesellschaft ließ die Zuschauerquoten im öffentlich rechtlichen Fernsehen ansteigen: „Die Reichweite der 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau stieg allein im Ersten um 28 Prozent an, wenn man den Zeitraum ab dem 16. März — also seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen — mit dem Zeitraum davor seit 1. Januar vergleicht. Noch deutlicher war der Anstieg bei der Hauptausgabe der heute-Nachrichten im ZDF, die um 31 Prozent zulegten, berichtet dwdl.
Dieser Anstieg betreffe auch die Talkshows, „weil es plötzlich Dinge zu diskutieren gab, die wirklich jeden Einzelnen in seinem ganz persönlichen Leben angingen.“ In der Zeit seit Corona, ab 16. März 2020, stieg die Reichweite im Gesamtpublikum um 19 Prozent an, die Reichweite unter den 14- bis 49-Jährigen sogar um ganze 30 Prozent (Stand: 15. Mai 2020).
Laut Quotenmeter lief es diesen März für Anne Will „so stark wie seit 2017 nicht mehr.“ Die Sendung „Die Coronakrise — wie drastisch müssen die Maßnahmen werden?“ vom 15. März 2020 erreichte demnach 6,09 Millionen Zuschauer. Ergänzend möchte ich hier anmerken, dass die Zuschauer- und Abonnentenzahlen in den sogenannten alternativen Medien während der Corona-Krise auch stark anstiegen.
Die Sendung Anne Will vom 17. Mai 2020
Im Mai griff Anne Will unsere aktuelle Situation auf mit dem Thema „Corona-Einschränkungen — waren und sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig?“ Die hier besprochene Sendung hat 59 Minuten Sendezeit und wurde am Sonntag, 17. Mai 2020, um 21.45 Uhr in der ARD gesendet. Wiederholt wurde sie am 18. und 19. Mai in den Sendern NDR, Phoenix, 3sat, tagesschau24, Radio Bremen TV und in der ARD. In der ARD-Mediathek ist sie verfügbar bis zum 17. Mai 2021.
Geladene Gäste waren Karl Lauterbach (SPD), Sahra Wagenknecht (Die Linke), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und der Journalist Olaf Sundermeyer.
Das Thema der Sendung, die im Vorspann und auch schriftlich angekündigte Fragestellung nach der Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe wird in der gesamten Sendung nur einmal von Anne Will gestellt. Sie wendet sich dabei direkt an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Von ihr wird die Frage dann insgesamt gute vier Minuten lang behandelt.
Redezeiten der Gäste
Die Redezeit ist bei allen Gästen um die 10 Minuten lang und damit einigermaßen gleichmäßig aufgeteilt. Lauterbach rangiert hier auf Platz 1 mit 10 Minuten 15 Sekunden Sprechzeit, gefolgt von Pörksen mit 9 Minuten 44 Sekunden Redezeit. An vorletzter Stelle findet sich Sahra Wagenknecht mit 9 Minuten und 15 Sekunden Redezeit, an letzter Stelle dann Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit 8 Minuten, 35 Sekunden Redezeit.
Wagenknecht äußert sich am kritischsten gegenüber dem Regierungskurs, gefolgt von Leutheusser-Schnarrenberger, die zumindest die Grundproblematik der Verfassungsklagen einmal deutlich aussprechen musste. Lauterbach, Pörksen und Sundermeyer, damit drei von fünf Gästen, äußern jeweils überhaupt keine Kritik am Regierungskurs und den Grundrechtseingriffen. Wagenknecht spricht überwiegend ab Minute 40, also im Verlauf der Sendung eher mittig und gegen Ende. Sie hat damit weder die Gelegenheit, anfangs die Diskussion mit ihrer Einschätzung zu eröffnen noch ein bleibendes Schlusswort zu sprechen.
Thematische Aufteilung der Sendung
Eine zeitliche Analyse der besprochenen Themen ergibt Folgendes: Nach dem ersten Einspieler wird drei Minuten lang dargelegt, warum die Pandemie sehr gefährlich ist, dass eine zweite Welle droht und dass es wichtig ist, die Bevölkerung davon zu überzeugen.
Von Minute sechs bis zehn wird Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als einzige nach dem Thema der Sendung gefragt: Sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig? Sie bejaht es, berichtet aber von den verfassungsrechtlichen Grenzen.
Im Anschluss daran wird vierzehn Minuten lang die Frage behandelt: Geht es den Demonstranten um Kritik an den Grundrechtseinschränkungen oder um etwas anderes?
Es folgt der zweite Einspieler.
Von Sendeminute 24 bis 43 wird siebzehn Minuten lang darüber gesprochen, wie gefährlich die Demonstranten gegen die Corona-Grundrechtseinschränkungen sind, und ob man überhaupt mit ihnen sprechen sollte. Abgezogen habe ich hier zwei Minuten, in welchen Sahra Wagenknecht über wirtschaftliche Ungerechtigkeit infolge von Corona spricht.
Ab Sendeminute 43 bewegt Sahra Wagenknecht das Thema von der Gefährlichkeit der Demonstranten etwas weg und spricht über das Thema fehlende Meinungsvielfalt im öffentlichen Diskurs, über welches dann sieben Minuten lang diskutiert wird.
Nach dem letzten Einspieler wird dann sechs Minuten lang über das Thema Wie können wir die Bevölkerung von den Grundrechtseingriffen überzeugen? gesprochen, bis die Sendung zu Ende ist.
Die Sendung hat ihr ursprüngliches Thema damit verfehlt.
Die Eröffnung der Diskussion
Die ersten Sendeminuten einer Talkshow sind von besonderer Bedeutung, weil die hier erzeugten Gedanken und Gefühle den Zuschauer abholen und quasi auf die Startbahn bringen zur folgenden Diskussion. Am Anfang interessiert uns: Worum geht es? Wovon gehen wir aus? Von wo aus sehen wir aufs Geschehen?
Jede Diskussion braucht ein Warum, einen Grund, warum überhaupt über ein Thema diskutiert wird. Dies kann sehr offen geschehen, im Sinne des gewählten Themas, und mit der Absicht, verschiedene Standpunkte dazu miteinander ins Gespräch bringen. Es kann aber auch eine Verengung erzeugt werden, eine bestimmte Richtung angedeutet und im weiteren Verlauf festgelegt werden. So geschieht es bei Anne Will, die ihre erste Frage an den regierungskonformen SPDler Karl Lauterbach stellt:
„Herr Lauterbach. Je erfolgreicher die Corona-Auflagen, sprich die Grundrechtseinschränkungen, desto geringer inzwischen das Bedrohungsgefühl, desto lauter wird aber auch die Kritik an der Verhältnismäßigkeit (…) der Grundrechtseinschränkungen. Kommt die Formel hin?“
Hier werden so viele Aussagen getroffen, dass kaum mehr eine Frage übrig bleibt. Es handelt sich um eine Suggestivfrage. Suggestivfragen können angebracht sein, etwa wenn der Sprechende „eine vorhandene Gemeinsamkeit im Denken, Fühlen, Wollen oder Handeln mit einer Person betonen“ möchte. Das Thema der hier besprochenen Sendung aber ist die Frage, ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind oder nicht. Dieses Thema mit einer Suggestivfrage zu eröffnen, engt das Denken im Publikum sehr ein.
Die vorweggenommenen Aussagen sind:
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Die Corona Auflagen sind erfolgreich und demnach auch sinnvoll.
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Die Kritik wird laut, weil die Bedrohung, also die Angst vor der Krankheit abnimmt.
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Es impliziert, dass die Kritik sinnlos ist, weil sie ja gegen die erfolgreichen Maßnahmen gewandt ist. Diese Argumentation ist ein Beweisfehler, ein Zirkelschluss: Das zu diskutierende Ergebnis wird hier als Voraussetzung angenommen.
Lauterbach eröffnet nun die Diskussion mit dem Versuch einer Sympathiegewinnung für den Regierungskurs: Er führt aus, warum „die Vorbeugemedizin, also die Präventionsmedizin, keine Helden kennt“. Im Erfolgsfall wirke sie übertrieben auf die Betroffenen, andernfalls als gescheitert.
Der Begriff Vorbeugemedizin klingt erstrebenswert und unpolitisch. Er ist dadurch geeignet, um einen Konsens zu erzeugen. Der Begriff passt aber nicht zu den politischen Grundrechtseingriffen, da man nicht eine ganze Bevölkerung ungefragt zu Patienten erklären kann. Es handelt sich hier um eine rhetorische Figur, einen Euphemismus, der das Geschehen beschönigt. Davon abgesehen stimmt Lauterbach damit dem Zirkelschluss in der Eröffnungsfrage von Anne Will unhinterfragt zu. Den gleichen Zirkelschluss nutzt auch Pörksen im späteren Verlauf der Sendung und sagt: „Weil die Maßnahmen gewirkt haben, scheinen sie im Nachhinein als unverhältnismäßig, darin besteht ’ne gewisse Problematik“.
Nach dieser starken Eröffnung spricht sich Lauterbach auf Wills Frage hin zwei Minuten lang dafür aus, den Regierungskurs zu verschärfen und den Lockdown zu verlängern. Einer Pandemie „dieser Art“ folge „normalerweise“ eine zweite Welle. Stilistisch handelt es sich bei dieser Ankündigung um eine Verallgemeinerung. Es gab aber in der Geschichte nichts mit der heutigen Situation Vergleichbares. Die Verallgemeinerung verleiht seiner Behauptung Glaubwürdigkeit.
Man solle dann etwas „konsequenter“ vorgehen als jetzt, führt Lauterbach aus, und man müsse der Bevölkerung die Dringlichkeit der Lage „erklären“, damit sie die Maßnahmen akzeptiere. Es sei auch erstrebenswert, bereits eine Corona-App zu haben.
Das fulminante Intro von Lauterbach bedient sich dem rhetorischen Mittel der Klimax, einer Steigerung:
„Man muss es gut erklären. Und ich sag das deshalb, weil tatsächlich könnte es sein, dass wir da wieder hinkommen. Wenn die Fälle wieder zunehmen, im Herbst beispielsweise, dann sollten wir uns noch einmal überlegen, dann müssen wir das Feuer ja wieder austreten. Also wenn eine zweite Welle kommt, die ist dann ja auch, es wird, wahrscheinlich wird eine zweite Welle kommen. Eine Pandemie dieser Art, sagen wir mal, wo es keine Immunität gibt, kommt fast immer mit einer zweiten Welle.“
Diese Klimax mag unbeabsichtigt entstanden sein. Ich erkenne hier allerdings keinen eigenen Standpunkt, da Lauterbach nicht nachvollziehbar darlegt, warum man eine Welle vorhersehen könne. Könnte es nun sein, dass diese zweite Welle kommt, oder muss Lauterbach aus irgendwelchen Gründen behaupten, dass sie fast sicher kommt? In diesem Spektrum bewegt sich das Gesagte. Auf mich wirkt es, als würde hier etwas mit allen Mitteln heraufbeschworen. Wäre Corona eine fiktive Erzählung, spräche man vom allwissenden Erzähler, der auch in die Zukunft blicken kann.
Worum geht es? Analyse der vertretenen Standpunkte
Die Analyse der vertretenen Standpunkte ist sehr spannend: Was von allem Gesagten lässt sich mit einem eigenen Standpunkt des Sprechers in Verbindung bringen, und was alles läuft da sonst noch ab? Geht es den Gästen überhaupt um Standpunkte und um eine fruchtbare Diskussion?
Die folgende Analyse folgt nicht der Chronologie der Sendung, sondern verfolgt die innere Logik der jeweiligen Argumentation der Gäste.
In der sechsten Sendeminute fragt Anne Will dem Thema entsprechend Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nach der Verhältnismäßig der Maßnahmen. Ihre Antwort ist interessant, da sie einen Widerspruch thematisieren muss: Sie bejaht, anfangs seien die Maßnahmen richtig gewesen, „in der ganzen ersten Zeit eher ja“.
Dann aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Sie sagt dazu, es sei klar geworden, „…, dass da die Öffnungen jetzt sein müssen, auch verfassungsrechtlich.
Dieser Logik zufolge haben also die erfolgreichen Klagen verschiedener wirtschaftlich und anderweitig Betroffener dazu geführt, dass die Verhältnismäßig der Maßnahmen nicht mehr gegeben war. Das Kriterium zur Verhältnismäßigkeit ist demnach das Urteil eines Verfassungsgerichts. Wie dann aber zuvor alles richtig gewesen sein konnte, bleibt unklar und unbesprochen. Anders gesagt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Ihr Statement ist unter diesem Aspekt eher als Bericht des Geschehenen zu sehen, nicht als Standpunkt zum Thema.
Olaf Sundermeyer vertritt im Folgenden den Standpunkt, dass Demonstranten, welche sich nicht innerhalb ihrer Branche, sondern branchenunabhängig zusammengefunden haben, nicht wegen der Grundrechtseingriffe demonstrieren würden, sondern aus anderen, gefährlichen Gründen. Aus rein wirtschaftlichen Gründen zu demonstrieren sei also gerade noch legitim. Grundrechtseingriffe aus anderen, sei es politischen, sozialen, gesellschaftlichen, demokratischen oder juristischen Gründen zu kritisieren, etwa für die Einhaltung des Grundgesetzes zu demonstrieren und das unabhängig vom eigenen Kontostand, ist nach dieser Logik nicht vertretbar.
Sundermeyer führt diesen widersprüchlichen Standpunkt dennoch auch im späteren Verlauf der Sendung weiter aus und sagt über die wirtschaftlichen Verlierer der Corona-Maßnahmen: „Das sind aber nicht die Leute, die auf die Straße gehen Das sind auch nicht die Taxifahrer.“ Lauterbach argumentiert analog dazu und behauptet, Proteste ohne wirtschaftliche Motivation seien zwangsläufig „gegen“ und nicht „für“ etwas, deshalb würde er sich nie daran beteiligen. Für finanzielle Hilfe zu protestieren ist ihm zufolge also verständlich, für die Grundrechte zu protestieren dagegen verwerflich.
Eine positive Motivation, freiheitliche und demokratische Beweggründe sowie innere Werte als Ursachen für Proteste werden in der gesamten Sendung konsequent ausgeblendet, diffamiert, verdreht, verdrängt und für nicht existent erklärt: Wer nicht für mehr Geld auf die Straße geht, dessen Beweggründe sind unlauter, dessen Integrität wird ihm genommen, und verglichen wird er mit gewaltbereiten Außenseitern. Wenn uns das als Zuschauer nicht auffällt, dann sehe ich darin eine Spiegelung unserer Wertekrise als Gesellschaft.
Noch vor Ablauf seiner ersten beiden Redeminuten bringt Sundermeyer die Flüchtlingskrise und „flüchtlingsfeindliche Demonstrationen“ ins Spiel und nennt die Corona-Demonstranten „teilweise dieselben Akteure. Sie errichteten eine „Protestkulisse“, die mit der Stimmung in der Bevölkerung nichts zu tun habe, und es ginge ihnen lediglich um „Protest und Widerstand“. Er bringt also gleich zu Beginn seines Statements die Corona-Demonstranten mit flüchtlingsfeindlichen Protestlern in Verbindung, stilistisch gesehen eine Verallgemeinerung. Im weiteren Verlauf der Diskussion artet diese Verallgemeinerung zur klaren Diffamierung aus.
An dieser Stelle wage ich eine Analogie: Wenn ein Berliner Bürger eine Trambahn benutzt, in welcher auch ein flüchtlingsfeindlicher Mensch sitzt, ist dann etwas mit der Gesinnung des Bürgers nicht in Ordnung? Muss nun die ganze Trambahn diffamiert werden inklusive der Berliner Verkehrsbetriebe? Eine ungute Vorstellung.
Auf die oben genannten branchenspezifischen Demos bezogen sagt Sundermeyer: „Und die muss man jetzt schon da rausnehmen und nicht sagen, sämtliche Demonstrationen, alle Menschen, die ein Problem mit dieser Gesamtsituation haben, sich artikulieren, sind organisierte Rechtsextremisten, aber viele eben schon.“ Das rhetorische Mittel hier ist eine Concessio: Dem Gegenargument wird zugesprochen, doch wird es zugleich durch eigene Aussagen entkräftet. So wirkt die extrem diffamierende Aussage dennoch vertrauenerweckend.
Sahra Wagenknecht widerspricht dieser Verallgemeinerung und vertritt dann den Standpunkt, dass die wirtschaftlichen Folgen von Corona ungerecht seien und anders geregelt werden müssten.
Vom Umgang mit der unliebsamen Opposition
Nach dem ersten Einspieler erklärt Lauterbach, dass die Anliegen der Demonstranten in jedem Fall als sinnlos auffliegen werden, weil entweder eine „zweite Welle“ die große bestehende Gefahr beweisen wird oder die fehlende zweite Welle die Demonstrationen überflüssig machen wird, was beides „für diese Protestbewegung schlechte Nachricht“ sei.
Sein Standpunkt legt zugrunde, dass es keine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit unter Wissenschaftlern zur Gefährlichkeit von Corona gebe, sondern nur eine bereits einmütig bewiesene Wahrheit. Dieses Weltbild wird durch seine Ausführung indirekt vermittelt. Da das aber nicht zutrifft, handelt es sich um den gleichen Zirkelschluss wie zu Beginn der Sendung. Gäbe es keine Meinungsverschiedenheiten zu dem Thema, dann gäbe es ja auch keine Demonstranten. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.
In den folgenden Minuten wiederholt Lauterbach mehrmals, dass er niemals auf eine solche Demo gehen und mit den Demonstranten spreche würde, und lehnt das Mittel der Demonstration ab. „Ich wäre nie zu so einer Demo hingegangen. Ich hätte niemals versucht sage ich mal, mit den Demonstranten ins Gespräch zu kommen“. Diese emotional wirksame Betonung, mit einer bestimmten Personengruppe nicht zu sprechen, empfinde ich nicht als Standpunkt, sondern als Mittel der Ausgrenzung.
Lauterbach bemüht dazu auch den Vergleich mit den „Pegida-Demonstrationen“ und sagt: „Wir haben am Anfang bei der Flüchtlingskrise viele Fehler gemacht, da wurde wenig erklärt Der Satz impliziert, dass Menschen gefährlich sind, wenn sie die Erklärungen zum Regierungskurs nicht glauben.
In der Diskussion unterscheidet Lauterbach die Corona-Proteste von der Flüchtlingskrise, weil „die Flüchtlinge (…) ja geblieben“ seien und sagt, er hoffe, „dass das strukturell ein ganz anderes Problem ist Diese Ausführung hinterlässt beim Zuschauer den Eindruck von Meinungsvielfalt unter den Gästen, weil er sich darin scheinbar von Sundermeyer unterscheidet.
Wozu aber macht er den Vergleich überhaupt? Dem zuvor wesentlichen Punkt, nämlich der Diffamierung der Demonstranten, widerspricht er nicht. Die Wörter „Pegida“ und „Flüchtlingskrise“ bringen die aktuellen Proteste in einen unguten Zusammenhang und erzeugen beim Publikum Angst.
Lauterbach betont, dass die Regierung ständig damit beschäftigt sei, zu erklären, und lobt diese Bemühungen. „Wir erklären doch ständig. Mittlerweile erklären wir auf den Kinderkanälen (…) Meine 13-jährige Tochter kann mittlerweile jedem Erwachsenen den R-Wert erklären. Wir sind ständig auf Sendung. Es wird immer weiter erklärt. Diese Haltung empfinde ich auch nicht als Standpunkt innerhalb einer Diskussion, eher fühle ich mich an einen Monarchen erinnert, der seinem Volk in väterlicher Manier ein Urteil oder eine Entscheidung erklärt.
Wagenknecht widerspricht Lauterbach und vertritt den Standpunkt, dass vieles nicht gut erklärt wurde. „Viele öffentlichen Auftritte, auch des RKI“ empfinde sie als „äußerst widersprüchlich“. Sie betont die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Maßnahmen und die berechtigten Ängste der Bürger.
Leutheusser-Schnarrenberger erklärt, dass eine große wirtschaftliche Rezession bevorstehe. In dem Zusammenhang warnt sie vor „Rechtspopulisten“ und „Rechtsextreme(n)“, womit sie der insistierenden Fragestellung der Moderatorin folgt. Dabei widerspricht sie sich, den eigenen Standpunkt betreffend, mehrfach selbst.
In Bezug auf die Proteste betont sie, „die überwiegende Mehrheit, so hieß es, waren verfassungstreue Bürgerinnen und Bürger und setzt sogleich hinzu:
„Ich würde auch nicht hingehen, zu denen, mit ‘nem AfDler oder mit anderen, äh, Köchen, in irgendwelchen Verschwörungsvorstellungen.“
Das Wort „Verschwörungsvorstellungen“ ist ein Dysphemismus, eine abwertende Bezeichnung für das Hinterfragen und Analysieren von politischen und wirtschaftlichen Beweggründen hinter den Corona-Maßnahmen. Die Ausdrücke „zu denen“, „AfDler“ und „irgendwelchen“ klingen, insbesondere durch die Betonung, abfällig.
Die Bürger dürften sich ihr zufolge zwar äußern, aber von Schildern mit der Aufschrift „Widerstand“ etwa halte sie nichts, da stünden ihr „die Nackenhaare zu Berge, wenn (sie) sehe, wie so die Grundrechte benutzt werden für wirklich andere Zielrichtungen“, Für welche denn?
Durch die mehrfache Concessio, die Zugeständnisse gegenüber der entgegengesetzten Argumentation, verleiht sie der jeweils folgenden Diffamierung mehr Glaubwürdigkeit. Einen eigenen Standpunkt finde ich in dem Statement nicht.
Pörksen erklärt auf eine weitere insistierende Frage von Anne Will hin, man müsse unter den Protestierenden die „Anführer“ und die Menschen, die „Angst haben“ unterscheiden. Sofort spricht er wieder von Pegida, und macht dem Publikum Angst:
„Es gibt den betulichen Dialog, der den anderen aufwertet, wir haben das im Anfang der Pegida-Phase erlebt, denken sie an 2015, Björn Höcke, der auf einem Talkshow Sitz seine Deutschlandflagge entrollt, (…) das halte ich für einen Fehler, gewissermaßen die Anführer einzuladen, den roten Teppich auszurollen, ich glaube, da bin ich ganz bei Herrn Sundermeyer, die muss man entlarven, demaskieren, deren Spiel muss man vorführen und das muss man zeigen.“
Mit den anderen, „die Angst haben“, müsse man sprechen. Miteinander sprechen klingt gut, aber was meint er?
Talk-Gäste widersprechen sich selbst
Pörksen fährt fort: „Und die gesellschaftliche Mitte muss sich aus meiner Sicht in dieser Situation zuschalten wie nie. Ihr Engagement verstärken. Ihre Auseinandersetzungsfähigkeit verstärken.“ Hier wird eine große Gefahr unausgesprochen impliziert, welche von den „Anführern“ und denen, die „Angst haben“, also der Protestbewegung, ausgehe. Außerdem impliziert seine Äußerung, dass die Protestbewegung keinesfalls aus der gesellschaftlichen Mitte käme. Diese müsse uns alle vielmehr vor der gefährlichen Protestbewegung beschützen.
Warum muss sie das? Was ist so dringend? Was ist so gefährlich wie nie?
Pörksen widerspricht sich hier selbst: Eingangs, nach den ersten zwanzig Sendeminuten, warnte er in Bezug auf Sundermeyer davor, „die Demonstranten pauschal abzuwatschen“, sowie vor einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft. Dieses Intro von ihm wirkte vertrauenerweckend und diente der Sympathiegewinnung. Außerdem spielte es dem Publikum eine Pluralität an Meinungen, eine ehrliche Diskussion vor. Wir erfahren jetzt aber, dass das nicht authentisch war, sonst würde Pörksen jetzt nicht in die gleiche Bresche schlagen wie Sundermeyer.
Schon im ersten Drittel der Sendung verstrickt sich Pörksen in Widersprüche:
„Das ist eigentlich ein Aufruf zum differenzierten Diskurs. Wir müssen Antisemiten Antisemiten nennen, sehen, wie die AfD, die sich gerade wunderbar selbst zerlegt, versucht, gewissermaßen als Krisengewinnler aus dieser Situation zu kommen, wir müssen auch Verschwörungstheoretiker Verschwörungstheoretiker nennen, aber wir haben eine völlig neue mediale Situation! Das muss man mal sagen. Um auch Maßnahmen zu verkünden, ähm, um Akzeptanz zu werben.“
All die genannten Personengruppen sind nicht Thema der Sendung, sondern dienen hier der Verleumdung der Demonstranten.
Sundermeyer reagiert hier im Sinne einer Scheindebatte und kontert lebhaft und ausführlich, er würde nicht pauschalisieren. Er sagt „Ich treffe kein pauschales Urteil über diese Menschen“, um wenige Sätze später wieder einen Vergleich mit Pegida zu bemühen: „Welche Rolle spielen Hooligans bei diesen Demonstrationen, das ist ganz wichtig und zentral, das haben wir bei Pegida auch gemacht Im späteren Verlauf der Sendung ziehen Sundermeyer und Pörksen dann am gleichen Strang, um die Demonstranten zu diffamieren.
Teile und herrsche in der ARD
Nach zwei Drittel der Sendezeit legt Pörksen dann schonungslos das Spielfeld offen, in welches er die Menschheit samt Protestbewegung einsortiert. Neben den „Anführern“ und denjenigen, die „Angst haben“ nennt er natürlich auch wieder die „Verschwörungstheoretiker“, einen Kampfbegriff, der das Analysieren von politischen, wirtschaftlichen oder geostrategischen Beweggründen sowie Absprachen mehrerer Personen diskreditieren soll. Der Begriff ist traditionsreich und geht auf ein dreiseitiges Strategiepapier der Central Intelligence Agency (CIA) zurück, die kritische Nachfragen zum Kennedy-Mord auf diese Weise 1967 loswerden wollte, wie ich in meinen Artikel „Der Medien-Dschungel darlege.
Pörksen erklärt in diesem Sinne traditionsgemäß: „Wir haben dreißig Prozent etwa in diesem Land, die an Verschwörungstheorien glauben Das sind ihm zufolge Menschen, die „diese Medien konsumieren“, welche Medien oder welche Art von Medien wird gar nicht genannt. Logisch betrachtet müsste es sich um Medien handeln, die, wie oben genannt, das Analysieren von politischen, wirtschaftlichen oder geostrategischen Beweggründen sowie Absprachen mehrerer Personen nicht diskreditieren, sondern im Sinne von investigativem Journalismus zulassen.
Pörksen fährt fort: „Aber die Schlüsselfrage: Wie erreicht man diejenigen, die sich in mediale Parallelgesellschaften zurückgezogen haben?“ Welche „Gesellschaften“ das sein sollen oder warum das Parallele in einer Demokratie etwas Negatives sein sollte, bleibt auch unklar. Pörksens Schlussfolgerung lautet: „Wir stehen wirklich vor der Aufgabe, neue Formen der Aufklärung zu entdecken.“ Oder noch drastischer: „Wir brauchen eine andere Dimension von Aufklärung.“
Sprechen soll man mit kritisch denkenden Menschen also schon, in Dialog treten aber nicht. Damit sind wir wieder nicht bei einem demokratisch vorgetragenen Standpunkt von Pörksen innerhalb einer Diskussion, sondern eher bei den Erklärungen eines Monarchen zum Volk, wie oben bei Lauterbach beschrieben.
Geteilt wird die Bevölkerung in eine schweigende „Mitte“ und in „gefährliche Protestler“. Geherrscht wird dann mit Allwissenheit.
Auf Anne Wills Frage hinnehmen die Talk-Gäste im weiteren Verlauf der Sendung zu Michael Kretschmer Stellung, dem Ministerpräsidenten von Sachsen, der ohne Mundschutz mit Demonstranten gesprochen hatte und dafür öffentlich kritisiert worden war.
Sundermeyer nutzt die Steilvorlage von Anne Will, zieht mehrfach Pegida-Vergleiche, dramatisiert so das Geschehen und macht den Zuschauern Angst.
„Es gibt wenige Politiker, die so sehr aus dieser Flüchtlingskrise und den politischen Verwerfungen gelernt haben wie der sächsische Ministerpräsident. (….) Das ist ein Lernprozess in der Dialogfähigkeit im Umgang mit Wutbürgern.“
Wutbürger ist ein negativer Begriff, der hier einer Protestbewegung übergestülpt wird. Die Gefahr bei der Kontaktaufnahme mit denselben wird weiter dramatisiert: „Mit Maske, ohne Maske, das ist hochproblematisch.“ Durch diese Übertreibung entsteht der Eindruck, der Ministerpräsident hätte einen Besuch bei der Mafia oder in einer Pestgrube hinter sich, bildhaft gesprochen.
Sundermeyer fährt fort: „Sein Vorgänger Stanislaw Tillich ist jemand an den man sich kaum noch erinnert, wurde auch deswegen aus dem Amt gefegt, weil er sich nicht den Dialog mit den Pegida-Demonstration in Dresden gestellt hat.“ Dieser Pegida-Vergleich mit einem Politiker, den der Zuschauer nicht einmal zuordnen kann, hat keinen anderen Sinn, als erneut Angst zu schüren.
Der RBB-Journalist schließt mit einem klaren Fazit:
„Miteinander reden und Zuhören heißt nicht, den Leuten recht zu geben. Diesen Fehler darf man nicht machen. Und der wurde bei Pegida von viel zu vielen gemacht, die dann doch hingegangen sind, um mit denen zu reden.“
Empfohlen wird hier also, mit so viel Angst voreinander zu kommunizieren, dass man gar nichts mehr voneinander annimmt. Das ist hart, und damit ist auch die Ausgrenzung von „denen“ verbal geschafft.
Sahra Wagenknecht ruft zur differenzierteren Betrachtung der unterschiedlichen Demonstrationen auf.
„Es gibt schon eine Parallele zur Flüchtlingskrise. Also das, was die AfD damals enorm gestärkt hat, ist, dass in dem öffentlichen Diskurs jeder, der die Flüchtlingspolitik kritisch gesehen hat, sehr sehr schnell in die Ecke Nazi und Rassist gestellt wurde.“
Sie warnt im Folgenden vor der Verschärfung sozialer Kontraste durch die Coronakrise. Wagenknecht führt aus, dass das vorhandene Meinungsspektrum öffentlich zu wenig abgebildet wird, bis hin zu den unterschiedlichen Ergebnissen von seriösen Experten und Virologen. Sie erklärt kurz, dass Bill Gates zu viel Einfluss in der WHO hat und diese nicht mehr unabhängig agieren kann. Als sie ausführt, man solle sich mit unterschiedlichen Argumentationen von Virologen auseinandersetzen, unterbricht Anne Will sie vehement, grundlos und unpersönlich mit dem Satz: „Ist nicht genug erklärt worden, dann doch?“
Lauterbach eilt Will hier zu Hilfe und versichert, dass es genug Debatte gab, politisch und medizinisch. Leutheusser-Schnarrenberger wirft ein, dass das lebendige Demokratie war. Lauterbach schwenkt wieder um zum Duktus des erhabenen Monarchen und nutzt die gleiche Verallgemeinerung wie zu Beginn der Sendung:
„Man muss immer wieder erklären: Also in der Regel ist bei so einer Pandemie, dass das was für die Gesundheit gut ist, auch gut für die Wirtschaft.“
In diesem belehrenden Duktus runden Anne Will und die Gäste die Sendung auch ab. Nach dem letzten Einspieler vertritt Pörksen die Ansicht, dass „man“ in den nächsten Wochen und Monaten „zunehmend um die Akzeptanz der Maßnahmen „kämpfen“ müsse. Er erklärt, dass Angela Merkel eine wundervolle, persönliche und gelungene Rede zur Krise gehalten habe, und führt dies eineinhalb Minuten lang aus. Ich empfinde auch diese Abschlussrede von ihm nicht als eigenen politischen Standpunkt, sondern eher als eine Form von Hofberichterstattung oder Königinnenlob.
Leutheusser-Schnarrenberger erklärt abschließend, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung rückläufig sei aufgrund der unklaren Zukunft und dass die Politiker über die Zukunft klarer kommunizieren müssten. Dies hinterlässt beim Publikum einen diplomatischen und lösungsorientierten Eindruck.
Nie geäußerte, aber themenrelevante Standpunkte
Der Standpunkt, dass die Grundrechtseingriffe unverhältnismäßig seien, unabhängig von und schon vor den Urteilen der Verfassungsgerichte, wird während der Sendung nicht vertreten. Der Standpunkt, dass die Pandemie als solche weniger gefährlich ist als vom Regierungskurs angenommen und unterstellt, wird nie geäußert. Die Meinung, dass Schweden einen gangbaren und sinnvolleren Weg eingeschlagen hat als Deutschland auch nicht.